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Grausamkeit erzeugt die Illusion von Macht

Wolfgang Müller-Funk weiß: „Grausamkeit ist ein komplexes und kompliziertes Phänomen. Sie hat verschiedene Gestalten. Und sie hat von den Hochkulturen über das europäische und vielleicht auch osmanisch-arabische „Mittelalter“ bis hin zur Moderne nach 1789 unterschiedliche historische Auftritte.“ Zentrum einer Studie von Jody Enders bildet die mittelalterliche Grausamkeit. Die Verfasserin begreift Folter und Tortur als Erbschaft der Antike. Elaine Scarrys Untersuchung, die ebenfalls das Mittelalter ins Blickfeld rückt, vertritt die These, dass organsierte Gewalt die Produktion einer phantastischen Illusion von Macht erzeugt. Sie beschreibt die öffentliche Folter als ein groteskes Beispiel für ein kompensatorisches Drama. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.

Von Gewalt geht generell eine Sogkraft aus

Der französische Philosoph Clément Rosset begreift das Reale als das Bedeutungslose und als essenzielle Verbindung zum Schweigen. Wolfgang Müller-Funk erklärt: „Seine Ethik ist mit zwei Prinzipien verbunden, jenem der hinreichenden Realität und jenem der Ungewissheit. Die Grausamkeit ist in seinen Augen kein herausgehobener Akt, versteht sie der französische Denker doch als eine intensive, schmerzhafte und tragische Natur der Realität selbst, die krude, das heißt roh, blutig und ungenießbar sei.“

Wie die Verurteilung zum Tod, die mit der Exekution zusammenfällt und den Verurteilten des notwendigen Intervalls beraubt, um einen Gnadenappell vorzubringen, so ignoriert und schneidet die Realität jedes Gnadengesuch ab. Es gibt ein unbestreitbare Sogkraft, die generell von Gewalt ausgeht und die Denker wie Antonin Artaud und Friedrich Nietzsche gefeiert haben. Wolfgang Müller-Funk erläutert: „Artaud versucht, seine Definition von der Vorstellung brutaler Gewalt zu trennen. Er tut dies unübersehbar im Gefolge Nietzsches, dessen Einverständnis mit dem göttlichen Festmahl der Grausamkeit darauf abzielt, ihre Faktizität letztlich zu legitimieren.“

Die kulturelle Evolution hat die Grausamkeit hervorgebracht

Der Terminus einer Ökonomie der Grausamkeit legt es nahe, dass über die Neutralisierung hinaus ein strategischer Wille zu ihrer Ausübung im Spiel ist. Dieser muss übrigens nicht mit dem auf Friedrich Nietzsche zurückgehenden Willen zur Macht, den Michel Foucault in den Diskursen der abendländischen Wissensformen verfolgt hat, identisch sein. Vermutlich ist die kulturelle Evolution, die, wie Marcel Hénaff darlegt, die Grausamkeit hervorgebracht hat, noch gar nicht abgeschlossen.

Und damit auch noch nicht die der Grausamkeit, die offenkundig mit der technisch-kulturellen Entwicklung des Menschen einhergeht. Wolfgang Müller-Funk erklärt: „Sie hat ihre Gestalt und ihre diskursive Logik von den ersten Hochkulturen, über die Antike bis hin zum europäischen Mittelalter und erst recht in der Neuzeit und bis zur Postmoderne verändert.“ Als Faustregel gilt: Die Zumutung, der Gewalt ins Auge zu schauen, setzt sich jede Auseinandersetzung mit dem Thema aus. Quelle: „Crudelitas“ von Wolfgang Müller-Funk

Von Hans Klumbies

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